Wir sprachen mit den Staatsanwälten Grit Stottok und Philip Engl von der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg, die seit Oktober 2021 mit dem BKMS® Hinweisgebersystem arbeiten.
Frau Stottok, Herr Engl, seit einem Jahr nutzen Sie eine Online-Plattform, über die anonyme Hinweise auf Straftaten abgegeben werden können. Was waren die Hintergründe?
Engl: Im Gesundheitswesen gibt es eine hohe Dunkelziffer, was Betrug und Korruption betrifft. Eine Studie der Universität Portsmouth beziffert den geschätzten Schaden durch Kriminalität im Gesundheitsbereich auf gut 6 Prozent. Das würde für Deutschland einen Schaden von 26 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten, den die Allgemeinheit in Form von Steuern und Krankenkassenbeiträgen tragen muss. Hier wollten wir eine zusätzliche Möglichkeit zur klassischen Strafanzeige schaffen, um Verdachtsfälle zu melden und damit Straftaten aufzudecken, die ansonsten unentdeckt bleiben würden.
Anzeigen konnten bisher schon schriftlich und damit anonym erstattet werden. Wo ist der Unterschied zu einem Hinweis über die Online-Plattform?
Stottok: Das ist richtig, es spielt grundsätzlich keine Rolle, ob die Anzeige mündlich oder schriftlich erstattet wird. Aber natürlich muss der Wahrheitsgehalt geprüft werden, um den Verdacht zu erhärten. Diese Nachforschungen sind erheblich komplizierter, wenn der Anzeigeerstatter nicht bekannt ist. Hier liegt auch der große Vorteil des Hinweisgebersystems.
Und wie sieht der aus?
Stottok: Die Plattform ermöglicht es uns, mit den hinweisgebenden Personen zu kommunizieren, ohne dass diese ihre Identität preisgeben müssen. Ein sogenannter Postkasten ermöglicht einen verschlüsselten Dialog, sodass wir Rückfragen stellen und um weitere Informationen bitten können. Das war bisher bei anonymen Anzeigen nicht möglich und hilft uns natürlich sehr bei unseren Ermittlungen, um einen Anfangsverdacht zu erhärten.
Ein häufiger Vorbehalt gegenüber Hinweisgeberportalen, die anonymes Melden ermöglichen, ist die Angst vor Missbrauch, also falschen Verdächtigungen.
Engl: Diese Erfahrung haben wir bisher nicht gemacht. Im Gegenteil: das Hinweisgebersystem gibt uns die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen, um so die Substanz der Hinweise auch durch Umfeldermittlungen überprüfen zu können. Dadurch sind wir viel besser in der Lage, Missbrauch zu erkennen, als bei klassischen anonymen Anzeigen. Sollten aber bewusst falsche Anschuldigungen gemacht worden sein, würden wir gegen diese Hinweisgeber ermitteln, denn bewusst falsche Verdächtigungen sind strafbar.
Kann bei begründeten Hinweisen die Anonymität der meldenden Person immer gewährleistet werden?
Stottok: Grundsätzlich ist es technisch ausgeschlossen, dass wir einen Hinweis zu seinem Urheber zurückverfolgen. Anders als z. B. ein Unternehmen, sind wir als Staatsanwaltschaft aber gehalten, Hinweisen auf die Identität der Hinweisgeber, die sich aus den Hinweisen selbst ergeben, nachzugehen. Durch die polizeilichen Untersuchungen und Umfeldermittlungen besteht durchaus die Möglichkeit, dass die Identität der Person bekannt wird, die uns den Hinweis gegeben hat. Da gibt es keinen Unterschied zu klassischen anonymen Anzeigen. Dennoch ist es wichtig, dass gerade im sensiblen Gesundheitsbereich anonym gemeldet werden kann, um niemanden abzuschrecken.
Können Sie das näher erläutern?
Stottok: Ja, gerne. Stellen Sie sich einmal den Fall einer Familie vor, die lange einen Pflegedienst oder einen Platz in einem Seniorenheim für ihre hilfsbedürftige Mutter gesucht hat. Diese überlegt es sich natürlich zweimal, ob sie gefälschte Dokumentationen, falsche Abrechnungen oder fehlende Qualifikationen der Pflegekräfte meldet, wenn sie dabei ihren Namen angeben muss. Denn die Angst ist groß, dann den dringend notwendigen Pflegeplatz wieder zu verlieren.
Sie haben bereits einige Delikte genannt. Bei welchen weiteren Fällen ist die ZKG zuständig?
Engl: Es geht, wie es der Name bereits sagt, um Betrug und Korruption, also Vermögensstraftaten im Gesundheitswesen im größeren Stil. In der Covid19-Pandemie gehören dazu beispielsweise auch Testcentren, die mehr Corona-Tests abrechneten, als durchgeführt wurden. Aber auch Ärzte, die bevorzugt Medikamente eines Herstellers verordnen und dafür Kick-back-Zahlungen erhalten, um nur einmal zwei Beispiele zu nennen. Der vermeintliche klassische Behandlungsfehler gehört hingegen nicht dazu.
Konnten mithilfe des neuen Hinweisgebersystems denn bereits Fälle aufgeklärt werden?
Engl: Nein, dafür ist es jetzt noch zu früh, allerdings laufen bereits einige Ermittlungen auf Basis der über das System erhaltenen Hinweise. Bei Fällen mit hohen Schadensvolumen, in denen wir ermitteln, sind die Zeitdimensionen größer. Bis es zu einem Prozess vor Gericht kommt, kann es durchaus Jahre dauern.
Können Sie dennoch bereits ein erstes Fazit Ihrer Arbeit mit dem Hinweisgebersystem ziehen?
Stottok: Ja, durchaus, und dieses ist positiv. Allein schon weil uns das Online-Portal den Dialog mit den Hinweisgebenden ermöglicht. Dadurch können wir schneller und einfacher den Wahrheitsgehalt der gemeldeten anonymen Verdachtsfälle überprüfen.
Wie zufrieden sind Sie mit der Resonanz, nachdem das Hinweisgeberportal im Oktober 2021 online gegangen ist.
Engl: Sehr zufrieden. Offensichtlich haben viele Menschen auf eine Gelegenheit gewartet, um ihre Verdachtsfälle anonym melden zu können. Anfangs war das Meldeaufkommen etwas höher, allerdings stand das System damals auch sehr in den Schlagzeilen durch Pressemitteilungen und eine Pressekonferenz des bayerischen Justizministeriums, aber auch jetzt gehen regelmäßig Hinweise und anonyme Meldungen ein. Wir sind allerdings noch in einer frühen Phase und müssen erst einmal sehen, wo sich die Zahlen einpendeln. Aber ich möchte auch festhalten: Wichtiger als die Quantität ist die Qualität der Meldungen.
Frau Stottok, Herr Engl, vielen Dank fürs Gespräch.
Hier gelangen sie zum BKMS® Hinweisgebersystem: ZKG
Whistleblowing Report
Umfassende Studie über Whistleblowing in europäischen Unternehmen